Offener Brief eines Arztes an die Parteien des Rates Hünxe

Thema: potentieller Umweltskandal Firma Nottenkämper in Gartrop / Stand 17.11.2017
Autor:  Dr. med. Joern-Helge Bolle / Facharzt für Arbeitsmedizin / Hünxe

Sehr geehrter Herr Buschmann,

seit meiner letzten Mail an Sie  und an die Parteien des Gemeinderates Hünxe (s.u.) haben sich zum Thema „Ölpellets“ einige elementare Änderungen ergeben.

Vor allem in der Gemeinde Schermbeck (und hier vor allem durch Initiative des Gahlener Bürgerforums) sind zahlreiche Anfragen an die am Umweltskandal beteiligten Behörden und Personen erstellt worden.
Nach Angaben der Rheinischen Post vom 14.und 15.11.17  hat sich der federführende Kreis Wesel bei seiner bisherigen Entscheidung zur  „fehlenden Notwendigkeit einer fachgerechten Entsorgung der illegal abgelagerten Ölpellets“ auf ein einziges Fachgutachten berufen. Dieses Fachgutachten sei wohl von der beklagten Firma Nottenkämper bezahlt worden, was meine Befürchtungen einer wohl  nicht völlig neutralen Begutachtung bestätigen würde.
Es widerspräche jeglichen Regeln einer sachkundigen und unabhängigen Gefährdungsbeurteilung, eine Begutachtung durch eine betroffene Partei (hier: die beklagte Firma) erstellen oder bezahlen zu lassen.

Zumindest in meinem Arbeitsbereich der Arbeitsmedizin (in der ich selbst als ärztlicher Gutachter z.B. in Sozialgerichtsverfahren tätig war) ist es üblich, vom Gericht oder der Behörde einen unabhängigen Gutachter zu bestellen (und diesen dann auch vom Gericht im Rahmen der Prozesskosten zu bezahlen).

In der NRZ und der RP von heute (17.11.17) ist die Entstehung des  Gutachtens allerdings so dargestellt, als ob der Gutachter Herr Lieser vom Kreis Wesel, der Bezirksregierung und dem Landesumweltamt beauftragt worden sei. Die Bezahlung ist entweder nicht erwähnt oder es wird wieder Nottenkämper genannt.

Diese widersprüchlichen Darstellungen zur Beauftragung und Bezahlung des 1. Gutachtens  müssten meines Erachtens kurzfristig geklärt werden.

Generell beinhaltet eine regelkonforme Durchführung eines Fachgutachtens wie beim aktuellen Fall aus meiner Sicht als Gefahrstoffexperte eine fachübergreifende Gefährdungsbeurteilung unter Berücksichtigung sowohl technischer, toxikologischer und medizinischer Gesichtspunkte.
Vorab werden dann vom beauftragenden Gericht oder der Behörde die üblichen erforderlichen Qualitätskriterien zum Fachgutachter oder wenn erforderlich zusätzlichen zuarbeitenden Gutachtern anderer Fachrichtigungen (Fach- und Sachkunde / Unabhängigkeit / Neutralität / Klärung etwaig erforderlicher Zusatzbegutachtungen z.B. für Laboranalysen etc.) geprüft.
Bei den  entscheidenden Schadstoff-Probenahmen sind dann die aktuellen gesetzlichen Vorgaben (z.B. TRGS /technische Regeln für Gefahrstoffe / Gefahrstoff Verordnung / Umweltgesetze / Arbeitsschutzgesetz / etc.) zu beachten.

Eine sachkundig korrekte  Probenahme (sowohl im Materialprobenbereich als auch im Bereich des  (Luft- / Wasser-) Umgebungsmonitorings) ist ebenfalls nach gesetzlichen Qualitätsvorgaben vorzunehmen. Dazu gehören z.B. für den infrage kommenden Schadstoffbereich zugelassene, zertifizierte Speziallaboratorien mit regelmäßigem Qualitätsnachweis in Form von Ringversuchen / qualifizierte Präanalytik / ausreichende Probenanzahl / Auswahl geeigneter Prüfverfahren / etc.). Die qualifizierte Auswertung hat dann im Abgleich sowohl mit umwelt- (Luft / Wasser / Boden-) als auch arbeitsschutzrechtlichen Grenzwerten (Z.B. AGWs / BATs / Richtwerte / etc.) auf Basis des EU Gefahrstoffrechtes (u.a. REACH)  zu erfolgen.

Selbst bei Einhaltung all dieser umfangreichen Qualitätsvorgaben gibt es dann im Rahmen der gutachterlichen Bewertung immer noch genügend Diskussionspunkte, da viele Fragen vor allem im Bereich  der Toxikologie noch offen sind. Für zahlreiche Substanzen gibt es überhaupt keine Grenzwerte. Wenn Grenzwerte vorliegen, sind diese häufig umstritten und in verschiedenen Ländern unterschiedlich hoch (Beispiel aktuelle Glyphosat-Diskussion). Völlig unbekannt ist die Auswirkung des in der Realität immer vorhandenen Schadstoffgemisches (wie bei den Ölpellets), wobei häufig von sich addierenden wenn nicht sogar potenzierenden Schadstoffwirkungen auszugehen ist. Völlig ungeklärt sind durchaus mögliche Schadstoffwirkungen selbst bei Einhaltung von Grenzwerten z.B. vor allem für Personen mit Vorerkrankungen oder für  sehr junge oder sehr alte Exponierte. Und für krebserzeugende, mutagene und reproduktionstoxische Substanzen (wie in den Ölpellets z.B. einige PAKs und  Schwermetalle) gibt es gar keine ungefährlichen Konzentrationen (s.u.)

Nach der bisherigen Darstellung in der Presse bis gestern waren  nur Materialproben erwähnt. In der NRZ von heute (17.11.17) und in der Informationsveranstaltung von Nottenkämper ist erstmals auch von Luft- und Wassermessungen die Rede, was zu einer Gesamtbewertung unabdingbar ist.

Ebenfalls interessant wäre, ob Nottenkämper die (gesetzlich verpflichtend) vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen nach Gefahrstoff Verordnung vorgenommen hat oder nicht. Dazu gehören ggf. ebenfalls Umgebungsmonitoring Untersuchungen (Luftmessungen im Arbeitsbereich) und sogenannte Biomonitoringbestimmungen bei den Exponierten. Gerade die Untersuchung der Blut- und Urinwerte der betroffenen Mitarbeiter hat eine hohe Aussagekraft über die etwaige Schadstoffbelastung im Grubenbereich (als Leitsubstanzen kann man hier direkt die PAKs und ihre Metaboliten aber auch die Schwermetalle bestimmen).

Ohne Ansicht der bisherigen wohl 2 Gutachten kann ich natürlich keine Aussage über die Einhaltung all dieser verpflichtenden Qualitätsvorgaben treffen.

Das mittlerweile laut RP vorliegende 2. Gutachten sieht im Gegensatz zu dem ersten Gutachten auf einmal doch die Gefahr von Boden- und Wasserbelastungen. „Die generelle Möglichkeit ökologisch nachhaltiger Bodenverunreinigungen sei gegeben“. Die nur kurz in der RP geschilderten Begründungen sind für mich komplett nachvollziehbar.
Die daraus resultierenden Konsequenzen („dauerhaftes Abpumpen des Sickerwassers zur Vermeidung von Verunreinigungen im Grundwasser in einem Wasserschutzgebiet(!)“) wären absolut folgerichtig.

Wer würde denn bei Bestätigung dieser Gutachtenbewertungen für die „Zukunft“ diese „Ewigkeitskosten“  bezahlen und die Durchführung garantieren? Bei z.B. einer etwaigen Insolvenz von Nottenkämper würden dann ja (wieder einmal) Folgekosten eines etwaig vorliegenden Fehlverhaltens eines Privatbetriebes (oder einzelner  krimineller Angestellter) der allgemeinen Gesellschaft (und damit auch der Gemeinde Hünxe) aufgebürdet.

Die Darstellung der Firma Nottenkämper gestern im WDR Regionalfernsehen  und heute in der NRZ und der RP , „man sehe sich als Opfer einzelner krimineller Mitarbeiter“, kann ich ehrlich gesagt (auf der Basis meines momentan sehr begrenzten Kenntnisstandes zur Faktenlage nur durch die Zeitungsartikel) nicht ganz nachvollziehen.

Zumindest die Behauptung, „dass jeder, der vertraulich um Auskunft gebeten wurde, diese auch bekommen habe“, stimmt für meine Mailanfrage an die Firma  nicht. Ich habe keine Antwort erhalten.

Natürlich steht es mir nicht zu, hier vor allem bei mir fehlenden vorliegenden, überprüfbaren Daten (wie den Gutachten) eine Bewertung zu erstellen.

Im Sinne des in Europa (zum Glück) geltenden Präventionsgrundsatzes  erlaube ich mir jedoch eine Meinungsäußerung dahingehend, dass bei einem funktionierenden Gefahrstoff-Management mit ordentlichen und regelmäßigen Eingangskontrollen, ausreichender Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsplätze (mit den o.g. Kontrolluntersuchungen) eigentlich keine 30.000 Tonnen ( also wohl ca. 1.000 (?) LKW Ladungen) einfach so von Einzelpersonen „unbemerkt vergraben“ werden können. Auch wenn wie in der Presse geschildert die eigentlichen Schadstoffpellets „versteckt“ wurden, hätten durch Stichproben diese kriminellen Machenschaften eigentlich auffallen können (oder eher müssen).

Die Schilderung, „man habe an der Ablagestelle eine visuelle Überprüfung vorgenommen“, ist ja wohl keine wirkliche Eingangskontrolle bei potentiell relevanten Gefährdungen, zumal bei der Vorgeschichte der Grube. Der Geschäftsführer hat ja nach Angaben der RP gestern auch  eingeräumt, „dass die etablierten Prüfmechanismen nicht ausgereicht hätten“ und dass „Videoüberwachungen dieser Bereiche bisher fehlten“.

Bezüglich des Gutachters Herrn Lieser (Dipl. Geologe) stellt sich mir die Frage, welche toxikologischen und medizinischen Fachkenntnisse er zusätzlich herangezogen hat, um zu der „beruhigenden“ Abschlussbewertung („Ölpellets können verbleiben“) zu kommen.
Für eine solche wichtige Feststellung reichen  bei diesem großen Areal die in der gestrigen Veranstaltung von Nottenkämper im Vortrag wohl gezeigten  4 Bohrungen und 13 Bodenluftmessungen, 16 Sickerwasseruntersuchungen und Laboruntersuchungen von nur 29 Feststoffproben meines Erachtens nicht aus.

Die Aussage, das Gasbildungspotential „sei gering“ müsste mit Nachweisen (z.B. in Form von Schadstoffkonzentrationsangaben, Dampfdrücken der beteiligten Schadstoffe etc.) untermauert werden. Das wird schwierig, wenn gar nicht klar ist, welche Schadstoffmengen in die Grube eingebracht wurden.

Die Aussage, „die Menge (der Pellets) sei durch die Untersuchung nicht prüfbar“, ist also richtig. Sie zeigt aber auch eine (eigentlich nicht) akzeptable Unsicherheit, welche weitere Nachuntersuchungen erfordert.

Die Aussage „Belassen der Pellets in der Verfüllung, da nur geringe Auswirkungen“, ist aus meiner Sicht ebenfalls nicht haltbar. Bei Schadstoffen wie PAKs und Schwermetallen sind immer mehr oder minder hohe Anteile von krebserzeugenden, mutagenen und erbgutverändernden Substanzen (CMR) dabei. Da gibt es nur eine einzige wirklich sichere Grenze, nämlich die Konzentration „0“, die ja hier leider (selbst nach einer Oberflächenabdichtung) nicht vorliegt.

Das das gegenteilig lautende 2. Gutachten der Firma Nottenkämper und dem Gutachter Lieser nicht bekannt sind, spricht auch nicht gerade für eine koordinierte Vorgehensweise in diesem sehr komplexen Umweltskandal.

Auch die Aussage des Geschäftsführers, „noch sei nicht bekannt, ob der Hauptbeklagte weiteren Giftmüll an Nottenkämper und andere Firmen vermittelt habe“, klingt  nicht gerade beruhigend.

Daher bin ich sehr gespannt auf die Aufklärung und Bewertungen im Rahmen des Gerichtsverfahrens und durch den Kreis Wesel als federführender Behörde im weiteren Verlauf.

Zusammengefasst möchte ich Sie als Bürgermeister  aufgrund der zahlreichen neuen Fakten und beunruhigenden offenen Punkte daher erneut fragen, welche Aktivitäten zur Vermeidung von  potentiellen Gesundheits- und Umwelt-Risiken von Hünxer Gemeindeseite geplant sind?
Offen gesprochen ist für mich nicht ganz nachvollziehbar, warum in Schermbeck / Gahlen so viele Aktivitäten zur Klärung der zahlreichen offenen Fragen stattfinden und bei uns in Hünxe (zumindest soweit ich es wahrnehmen kann) eher eine „abwartende“ Haltung vorherrscht.
Auch wenn Schermbeck zugegebenermaßen räumlich näher an der Grube liegt, wären etwaige Auswirkungen auf Gesundheit, Umwelt und auch die Finanzen der Hünxer Gemeindemitglieder ja wohl durchaus möglich.

Und das ein offenes und forciertes Nachfragen und Diskutieren durchaus viele Fakten zur Klärung  ans Licht bringen kann, sehen wir ja gerade in Schermbeck (und bei anderen politischen Themen wie der Gas-Pipeline ja auch bei uns in Hünxe).

Für etwaige interne Diskussionen in Gemeindegremien und Erstellungen etwaiger Fachanfragen an die politischen Entscheidungsträger (z.B. des Kreises Wesel) stehe ich wie angeboten allen Beteiligten weiterhin zur Verfügung.

Lassen Sie uns doch gemeinsam dafür kämpfen, dass der Umweltskandal möglichst ohne Folgen für die Bevölkerung und Umwelt bleibt und dass ggf. erforderliche Maßnahmen (wie z.B. eine fachgerechte Entsorgung der schadstoffhaltigen Rückstände auf geeignete und zugelassene Deponien mit ausreichender dauerhafter Abdichtung und Kontrolle des Wasserhaushaltes) zu Lasten der Verursacher erfolgen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Joern-Helge Bolle / Facharzt für Arbeitsmedizin / Hünxe

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Heimatreporter
Unter der Artikel-Kennzeichnung "Heimatreporter" postet der Schermbeck-Dammer Helmut Scheffler seit dem Start dieser Online-Seite im Jahre 2013 Artikel über vergangene und gegenwärtige Entwicklungen der Großgemeinde Schermbeck. Seit 1977 schreibt der inzwischen pensionierte Mathematik- und Erdkundelehrer für Lokalzeitungen. 1990 wurde er freier Mitarbeiter des Lokalfunks "Radio Kreis Wesel", darüber hinaus hat er seit 1976 zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte Schermbecks in niederrheinischen und westfälischen Schriftenreihen veröffentlicht. 32 Jahre lang war er Redakteur des "Schermbecker Schaufenster". Im Jahre 2007 erhielt er für seine niederrheinischen Forschungen den "Rheinland-Taler" des Landschaftsverbandes Rheinland.