Zeitzeuge Sami Steigmann besuchte am 24. August die Gesamtschule Schermbeck. Er ließ die Schülerinnen und Schüler auch in ganz private Bereiche seines Lebens blicken.
Es begann mit der Ausarbeitung eines Referats. Kurz vor dem Abitur, das sie vor einigen Wochen bestanden hat, musste sich Lilian Magdanz mit dem Thema „Holocaust“ auseinandersetzen.
Nun hätten sich viele damit zufriedengegeben, die in Büchern und im Internet zu findenden wesentlichen Erkenntnisse zusammenzutragen und für das Referat aufzubereiten. Doch der 18-Jährigen war schnell klar, dass ihr diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema nicht reichen würde. Ihr fehlte der emotionale Aspekt.
Nachwirkungen medizinischer Experimente
Eine Lücke, die über Kontakte aus dem Bekanntenkreis schließlich durch Sami Steigmann geschlossen werden konnte. Der 1939 in Rumänien geborene und seit mehr als 30 Jahren in New York lebende Jude, war zwischen 1941 und 1944 mit seinen Eltern, Reghina und Nathan, im Arbeitslager Mogilev-Podolsky. Von 42 Angehörigen haben nur zwei die NS-Diktatur überlebt. Auch Sami Steigmann, der sich aufgrund seines damaligen Alters nicht an die Zeit im Lager erinnern kann, ist bis heute schwer gezeichnet. Erst später hat er erfahren, dass seine chronischen Schmerzen auf medizinische Experimente zurückzuführen sind, denen er als Kleinkind ausgesetzt war.
Auswanderung nach Israel
1944 wurde das Lager von der Roten Armee befreit und 1961 bekam die kleine Familie, seine Schwester wurde 1946 geboren, die Chance, nach Israel auszuwandern. „Da habe ich zum ersten Mal einen jüdischen Polizisten gesehen“, schildert Sami diesen für ihn bewegenden Moment. Bis dahin war das für ihn undenkbar. In Israel ging Sami Steigmann zur Armee und diente bei der Air Force. 1963 zog es ihn ohne Sprachkenntnisse in die Vereinigten Staaten. Er landete in Milwaukee, heiratete und bekam einen Sohn. Als die Ehe scheiterte, kehrte er 1983 zunächst nach Israel zurück. Doch die Zeit in den USA hatte ihn geprägt, schon wenige Jahre später zog es ihn dorthin zurück. Diesmal nach New York. Seine letzte Station, wie er es nennt.
Bildung ist die beste Voraussetzung, um nicht auf Propaganda hereinzufallen.
Sami Steigmann
Bildung ist die beste Voraussetzung
Als Lilian Magdanz mit ihm in Kontakt trat, war er gerne bereit, zunächst über Zoom-Meetings, von seinen Erfahrungen zu berichten. Jetzt konnte der 83-Jährige, dank einer von der Gladbeckerin ins Leben gerufenen Spendenaktion, die Reise nach Deutschland antreten, um u.a. am 24. August an der Gesamtschule Schermbeck einige viel beachtete Vorträge zu halten. Dabei beließ er es nicht bei einem reinen Referat, der rüstige Senior ließ die Schülerinnen und Schüler auch in ganz private Bereiche seines Lebens blicken.
Ein langer Weg
Es sei ein langer Weg gewesen, bis er mit sich und Deutschland im Reinen gewesen sei. Was nicht allen gelungen ist. „Mein Vater hat nie wieder ein deutsches Produkt gekauft“, erinnert er sich an die erste Phase nach dem Krieg. Eine Sicht auf Deutschland, die er längst hinter sich gelassen hat. Er hat nicht vergessen, aber vergeben. Zumindest denjenigen, die ihre Stimme nicht erhoben haben, um den Holocaust zu verhindern.
Man muss die Vergangenheit kennen
Nur den tatsächlichen Criminals, wie er sie nennt, kann er nicht vergeben. Die Art und Weise, wie an deutschen Schulen die NS-Zeit aufgearbeitet wird, hält er für vorbildlich. In seiner amerikanischen Heimat spiele das Thema im Unterricht keine große Rolle. „Doch um zukünftige Desaster zu verhindern, muss man die Vergangenheit kennen“, betont er. Nur so kann man Lügen schon im Vorfeld als solche entlarven.
„Words lead to action!“ Im positiven wie im negativen Sinn. Die zweite große Gefahr sieht er in zu großer Gleichgültigkeit, wenn eigentlich Zivilcourage gefordert sei. Bildung ist die beste Voraussetzung, um nicht auf Propaganda hereinzufallen.