Wolfgang Bornebusch: Die Flüchtlinge unter uns – wer sind sie?

Pfarrer i. R. Wolfgang Bornebusch hat sich vorgenommen, Flüchtlinge, die es hierher nach Schermbeck verschlagen hat, zu interviewen und ihre Fluchtgeschichten festzuhalten. Ihre Veröffentlichung soll dazu beitragen, ein wenig mehr darüber zu erfahren, was für Menschen mit was für Geschichten und Problemen zu uns kommen und nun mit uns leben. Siehe auch hier: http://schermbeck-online.de/die-fluechtlinge-unter-uns-wer-sind-sie-2-teil-ali-rasouli/ oder hier: /http://schermbeck-online.de/die-fluechtlinge-unter-uns-wer-sind-sie-interview-von-pfarrer-i-r-wolfgang-bornebusch/

Ich betrete den Rheinisch-Westfälischen Hof, wo seit Kurzem insgesamt 29 Flüchtlinge eingezogen sind. Ausschließlich Männer. Sie kommen vor allem aus Syrien, aber auch aus Albanien, Irak, Iran, Nigeria, Somalia und auch Eritrea. Ich treffe auf ein paar Afrikaner, die mich erstaunt begrüßen. Ich frage nach Daniel Biedu Weldu, einen Eritreer. Sofort gehen einige von ihnen auf die Suche und kurz darauf erscheint er. Er hat mich schon erwartet. Wo sollen wir uns hinsetzen? Er geht voran. Ich folge ihm und mit mir alle weiteren Eriträer, die sich inzwischen eingefunden haben Außerdem zwei Somalier. So versammeln wir uns alle an einem langen Tisch. Daniel Biedu Wedu sitzt mir gegenüber. Das Interview wird zu einem Gruppenereignis. Die Somalier bleiben am Rande.
Jeder trägt zwei Nachnamen – eigentlich!
Ich frage die Landsleute meines Gesprächspartners nach ihren Namen. Sie heißen: Yodet Abrham Welday (sie ist gerade zu Besuch), Fsaha Ngusse Teklehanes, Maharezgi Meseret, Mikiala Beraki und Amanuel Tsegay. Sehr fremd klingende Namen. Aber mir fällt doch auf, dass einige – wie mein Interviewpartner – zwei Nachnamen tragen, die anderen nur einen. Die Verständigung ist sehr mühsam, aber ich bekomme schließlich doch heraus: Eigentlich tragen alle zwei Nachnamen. Der erste Nachname ist der des Vaters, der zweite der des Großvaters. Einigen deutschen Beamten reichte anscheinend ein Nachname. So fehlt nun einigen der zweite.

Hintere Reihe (v. l.): Maharezgi Meseret, Yodet Abrham Welday, Mikiala Beraki, Fsaha Nguwe, Daniel Biedu Weldu, Abderhuman (Somalier). Vorne (v. l.) Ammanuel Tsegay, Mahamed (Somalier).
Hintere Reihe (v. l.): Maharezgi Meseret, Yodet Abrham Welday, Mikiala Beraki,
Fsaha Nguwe, Daniel Biedu Weldu, Abderhuman (Somalier).
Vorne (v. l.) Ammanuel Tsegay, Mahamed (Somalier).

Sie alle gehören zum Volk der Tigrinya, dem größten im Vielvölkerstaat Eriträa (55%). Alle, die sich zum Gespräch eingefunden haben (außer den beiden Somaliern) gehören dem Volk der Tigrinya an, dem zahlenmäßig größten Volk in Eritrea. Deshalb ist ihre gemeinsame Sprache auch die tigrinische. Sie ist eine von neun Nationalsprachen im Lande und neben dem Arabischen die zweite Verkehrssprache.
Eritrea – zu etwa gleichen Teilen christlich und muslimisch
Die multiethnische Bevölkerung von Eritrea teilt sich zu fast gleichen Teilen in Muslime (Sunniten) und Christen (Protestanten, Katholiken, Orthodoxe) auf. Daneben gibt es einige einheimische Naturreligionen mit vergleichsweise geringer Anhängerschaft.
Kleine Minderheiten von Evangelikalen und Zeugen Jehovas gibt es auch. Sie werden aber vom Staat nicht anerkannt und sind immer wieder Ziel systematischer und brutaler Verfolgung. Die sich um mich versammelt haben, gehören ausnahmslos der eritreisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche an. Ihre biblischen Vornamen Yodet (Judith), Mikiala (Michael), Amanuel (Immanuel) und Daniel weisen darauf hin.
Auf keinen Fall zum Militär!
Kommen wir auf Daniel Biedu Weldu zurück. 26 Jahre ist er alt, hat zwei Schwestern und zwei Brüder und war bis vor nicht ganz zwei Jahren, so schätze ich, in der Nähe von Mendefera – unweit der äthiopischen Grenze – zuhause. 11 Jahre, so sagt er, ging er zur Schule. (Formal besteht Schulpflicht im Alter von 7 bis 13 Jahren!) Dann machte er eine Ausbildung in „business“, vielleicht so etwas wie eine kaufmännische Lehre. Er schloss diese aber nicht ab, weil die Familie von der Armee Besuch bekam: Daniel sollte Soldat werden. Das aber wollte Daniel nicht. Warum nicht? Das herauszufinden, dafür reicht unser beider sprachliches Vermögen nicht wirklich.

Daniel Biedu Weldu
Daniel Biedu Weldu

Eritrea ist alles andere eine Demokratie.
Aber vielleicht reicht es, wenn man sich Folgendes klar macht: Eritrea besitzt zwar offiziell eine demokratische Verfassung, ist aber von einer Demokratie weit entfernt. In Wirklichkeit ist Eritrea ein Einparteienstaat. Es gibt zwar durchaus auch andere Parteien im Lande. Diese sind aber alle zu den Wahlen nicht zugelassen und damit quasi illegal. Die Menschenrechtssituation ist katastrophal. Es wird berichtet von willkürlichen Verhaftungen und Tötungen, davon, dass Menschen gefoltert werden oder einfach verschwinden. Die Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreit, grundlegende demokratische Rechte, sie sind alles andere als garantiert. Auf der Rangliste der Pressfreiheit nimmt Eritrea schon wiederholt den 180. Platz ein, den letzten, den die Pressefreiheitsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ zu vergeben hat. Das Militär ist das Machtinstrument dieses Staates. Auch innenpolitisch. Ich ahne und vermute, warum Daniel Biedu Weldu nicht Soldat eines solchen Staates werden will.
Ein Abschied unter Tränen
Unter Tränen hat sich, so erzählt Daniel, seine Mutter – der Vater ist bereits gestorben – von ihm verabschiedet. Gleichwohl hat sie seine Flucht uneingeschränkt unterstützt. Ein Großteil der Einrichtung des elterlichen Hauses, so verstehe ich ihn, wurde mit ihrer Einwilligung verkauft, um ihn zu unterstützen. Eine Flucht ist schließlich keine kostengünstige Veranstaltung. Grenzposten müssen bestochen und Schlepper bezahlt werden. Hier und da auch ein Schlafplatz. Und irgendwas in den Magen bekommen muss man unterwegs schließlich auch.
Mit dem Finger auf der Landkarte…
Ich habe meinen Dierke-Atlas mitgebracht. Mit dem Finger auf der Landkarte versucht Daniel, mir seinen abenteuerlichen Weg nach Deutschland zu beschreiben: Zunächst macht er sich über die nahegelegene Grenze zu Äthiopien davon. Entlang der äthiopischen Grenze geht es dann weiter Richtung Sudan. Ganze zwei Monate braucht er, um dieses vom Bürgerkrieg gebeutelte Land zu durchqueren. In dem engen Korridor zwischen Tschad und Ägypten überquert er schließlich die Grenze nach Libyen.
Auch Libyen ist alles andere als ein sicheres Land. Auch hier herrscht Bürgerkrieg. Der IS ist unheilvoll präsent. Tausende von Binnenflüchtlingen suchen nach einem sicheren Ort. Aber irgendwie schafft es Daniel in diesem bedrohlichen Durcheinander: Nach etwa einem Monat erreicht er Tripolis am Mittelmeer.
Von Khartum, der Hauptstadt des Sudan, bis Tripolis sind es Luftlinie etwa 2800 km. Fast ausschließlich Wüste. Mit einer Gruppe von Flüchtlingen auf der Ladefläche eines klapprigen Lastwagens sind es (nach map 24) über verschlungene Wege und Pisten noch einige Tausend Kilometer mehr. Tagsüber bei irrer Hitze. Nachts bei bitterer Kälte. Geschlafen wird auf dem nackten Boden. Immer wieder, so erzählt er, gibt es kaum etwas zu trinken und zu essen. Immer wieder geht es also um Leben und Tod, wird er begleitet von der Ungewissheit, ob er aus der Wüste je wieder herauskommen würde. Als er versucht, mir seinen unendlichen Weg durch die Sahara auf der Landkarte zu zeigen, beschleunigt sich seine Atmung merklich.
Von Tripolis über das Mittelmeer nach Sizilien
In Tripolis lag das Schlimmste allerdings noch nicht völlig hinter ihm. 24 von Ängsten begleitete Stunden ging es in einem Boot über das Mittelmeer – bis er zusammen mit den anderen Bootsinsassen von einem italienischen Schiff aufgenommen und nach Sizilien gebracht wurde.
Da die Möglichkeiten der Verständigung zwischen mir und Daniel äußerst begrenzt sind, erfahre ich nicht, wie er sich während dieser abenteuerlichen Bootsfahrt gefühlt hat und was er da im Einzelnen erlebt und erfahren hat. Aber ich denke, dass die Bilder, die das Fernsehen uns Tag für Tag liefert, uns in etwa eine Vorstellung davon vermitteln, was Daniel da überstanden und durchgestanden hat.

Von Sizilien nach Deutschland
In Sizilien bleibt Daniel nur 14 Tage. Dann geht es weiter. Mit dem Zug. Milano, Mailand ist eine Station, an die er sich erinnert. Dann folgt für ihn schon Gießen, also Deutschland. Von Gießen aus erreicht er über die Stationen Dortmund, Unna und Hemer schließlich und endlich Schermbeck. Was er während dieses letztens Teil seines langen Weges erlebt hat, scheint kaum der Rede wert zu sein. Zu bedrohlich, zu gefährlich war das, was davor war.
Apropos Hoffnungen…
Seit einem Jahr und drei Monaten ist er nun bei uns in Schermbeck. Zunächst war sein Zuhause das Flüchtlingsheim an der Alten Poststraße, nun der Rheinisch-Westfälische Hof. Er scheint sehr froh darüber zu sein, dass er einige andere um sich hat, die auch aus seinem Heimatland kommen, die gleiche Sprache sprechen, einen ähnlichen Weg hinter sich haben, seine Ängste, seine Hoffnungen teilen können – und auch seine Frustration. Denn jeder von denen, die mit mir am Tisch sitzen, möchte mit einer Ausbildung beginnen (Daniel möchte gerne Automechaniker werden!), möchte arbeiten, Geld verdienen, die eigene Zukunft in die Hand nehmen. Sie alle machen mir übereinstimmend deutlich, welch einen Stress es bedeutet, die Tage nur mit Essen und Trinken und Schlafen und endlosem, vergeblichem Warten zu verbringen.
Daniel hofft und wartet zunächst einmal darauf, dass ihm sobald wie möglich Asyl gewährt wird – bisher kann er nur die „Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens“ vorweisen. Dann kann alles Weitere folgen. Hoffentlich bald!

Wolfgang Bornebusch, Pfarrer i. R.

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Heimatreporter
Unter der Artikel-Kennzeichnung "Heimatreporter" postet der Schermbeck-Dammer Helmut Scheffler seit dem Start dieser Online-Seite im Jahre 2013 Artikel über vergangene und gegenwärtige Entwicklungen der Großgemeinde Schermbeck. Seit 1977 schreibt der inzwischen pensionierte Mathematik- und Erdkundelehrer für Lokalzeitungen. 1990 wurde er freier Mitarbeiter des Lokalfunks "Radio Kreis Wesel", darüber hinaus hat er seit 1976 zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte Schermbecks in niederrheinischen und westfälischen Schriftenreihen veröffentlicht. 32 Jahre lang war er Redakteur des "Schermbecker Schaufenster". Im Jahre 2007 erhielt er für seine niederrheinischen Forschungen den "Rheinland-Taler" des Landschaftsverbandes Rheinland.