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Vor 76 Jahren: Reichspogromnacht in Schermbeck

Veröffentlicht am

Informative Quelle zur Reichspogromnacht in Schermbeck

Zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 veranstaltete die Schermbecker Gesamtschule am 12. November 2014 eine Gedenkstunde, über die wir berichteten. Sie gelangen <<<hier>>> zu dem Bericht.

Im Rahmen der Gedenkstunde wurden die  auf der Basis der Forschungen von Wolfgang Bornebusch und Andrea Kammeier aus den frühen 1980er-Jahren vorgestellt. In die Darstellung flossen auch die autobiographischen Schilderungen der Jüdin Marga Randall mit ein.
Eine Quelle wurde völlig ausgespart, die vielleicht bei künftigen Gedenkstunden mit berücksichtigt werden kann. Die Autorin Marlis Fengels ist sogar bereit, sich in die Gestaltung einer Gedenkfeier mit einzubringen.
Die Schermbeckerin Marlis Fengels befasste sich in ihrem Roman [Fengels, Marlis: Die Schönenbecker. Vom Untergang eines Dorfes. Roman. Moers: Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, 2004. 495 S. [ISBN 3-86506-015-3]] auf den Seiten 443 bis 452 mit den Vorgängen in der Reichspogromnacht. Von dem Roman gibt es noch Exemplare im Buchhandel, im Internet und bei der Autorin.

Am 31. Jnauar 2004 las Marlis Fengels in der Kulturstube nahe der Burg Passagen aus ihrem Roman "Die Schönenbecker" vor. Archivfoto: Helmut Scheffler
Am 31. Januar 2004 las Marlis Fengels (links und kleines Foto oben)  in der Kulturstube nahe der Burg Passagen aus ihrem Roman „Die Schönenbecker“ vor. Archivfoto: Helmut Scheffler

Hier der Wortlaut der Seiten 443-452. [ Beim Lesen sollte man das beachten, was im Nachwort des Buches geschrieben steht: „Die Figuren des Romans sind frei gestaltet und jede Ähnlichkeit mit historischen Personen rein zufällig. Der Autorin ging es darum, aus den verschiedenartigsten mündlichen und schriftlichen Überlieferungen, Berichten und Erzählungen, einen Dorf- und Familienroman zu schreiben, wobei einige dargestellte Ereignisse überlieferte Erzählungen aufgreifen, viele Vorkommnisse jedoch auch erfunden sind. Das hier dargestellte Schicksal eines Dorfes steht beispielhaft für das, was in Deutschland flächendeckend in dieser Zeit geschehen ist. Zwar sind nicht überall die Dörfer und Städte so verheerend vernichtet worden wie zum Teil am Niederrhein, aber mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wurde in Deutschland eine in der Kaiserzeit zur Blüte gelangte bürgerliche Kultur zerstört, die wesentlich durch die jüdischen Mitbürger und das Zusammenleben mit ihnen geprägt war.“]

9. Kapitel
1938 – 1945

Es war am neunten November, dem Tag, den Hitler sofort nach seiner Machtübernahme zur Erinnerung an die beim Münchner Putsch im Jahr 1923 ermordeten aufständischen Nationalisten zum Gedenktag erklärt hatte. Wie in allen Jahren zuvor, so hatte auch diesmal die Parteileitung schon Tage vorher die SA, die Hitler-Jugend und die Feuerwehr zu einer abendlichen Feierstunde am neuen Mahnmal für die Opfer der Bewegung eingeladen. Die Gemeinde hatte dieses Denkmal in Form eines mächtigen liegenden Löwen vor drei Jahren unten am Rathaus neu errichten lassen.
Von lodernden Pechfackeln umgeben, wirkte das Denkmal in dem nächtlichen Dunkel wie ein mystischer, weihevoller Ort. Die Männer standen andachtsvoll nebeneinander und verfolgten gebannt die Rede ihres neuen Ortsgruppenleiters, der mit eindringlichen Worten die Taten der getreuen Helden rühmte, die an diesem 9. November 1923 auf so tragische Weise für die „Bewegung“ ihr Leben lassen mussten. Nach der Kranzniederlegung und einer Schweigeminute trat ein SA-Mann, der mit mehreren Kameraden auf einem LKW aus einem Nachbardorf gekommen war, vor die versammelten Männer und Jugendlichen. „Meine treuen Gefährten“, hob er mit deutlich vernehmbarer, markiger Stimme an. „Wie viele von euch sicherlich schon aus der Zeitung wissen, feuerte vorgestern in Paris ein polnischer Jude kaltblütig und hinterrücks mehrere Pistolenschüsse auf unseren deutschen Gesandtschaftsrat. Heute am frühen Nachmittag erlag Ernst von Rath seinen schweren Schussverletzungen. Meine Getreuen“, rief er, „das war kein zufälliger Einzelfall eines Verrückten. Nein! Das war ein geplantes, vorsätzliches Attentat, gesteuert vom internationalen Weltjudentum, das sich hier eines kleinen, schmutzigen Handlangers bedient hat!“
„Weg mit den Saujuden. Die haben in Deutschland nichts mehr zu suchen!“, schrie jemand aus der Menge. „Man müsste sie alle auhängen, diese dreckigen Schmarotzer!“, unterstützte ihn lauthals ein anderer. „Teuflische Judenbrut, zur Hölle mit ihr!“, brüllte noch einer, und jetzt skandierte der größte Teil der Menge aufgebracht im Chor: „Zum Teufel mit den Juden!“
Um die Menge besser zu überschauen, war der fremde SA-Mann auf einen der dicken Felssteine gesprungen, die um das Denkmal herumlagen, und zeigte sich sichtlich zufrieden mit der Reaktion der Männer. Er räusperte sich und fuhr fort; „Die Gau- und Kreisleitung der NSDAP ist entschlossen, diesen kaltblütigen Mord nicht ungesühnt zu lassen.“ Sein bislang noch recht gemäßigter Ton ging in ein angestrengtes, schepperndes Schreien über, so dass sein Gesicht vor Anstrengung und Erregung rot anlief und die Adern an der Schläfe deutlich hervortraten: „Heute Nacht wollen wir den Juden in einer nie gesehenen Vergeltungsaktion heimzahlen, was sie uns angetan haben, indem sie einen unserer unschuldigen Staatsdiener so hinterrücks und gemein ermordeten!“ Einige Männer brüllten zurück: „Wir werden’s ihnen heimzahlen!“
Er forderte sie auf, sich eine von den Pechfackeln zu nehmen, die sie in großer Zahl mitgebracht hatten, und befahl ihnen, sich zu einem Zug zu formieren. Dann gab er die Regie bekannt, nach der die Heimzahlung ablaufen solle. Zuerst wolle man im brennenden Fackelzug mit viel Tamtam die Adolf-Hitler-Straße – die Nationalsozialisten hatten im Zuge der Machtübernahme die „Hauptstraße“ in „Adolf-Hitler-Straße“ umbenannt – herauf- und durch die hintere Straße wieder herunterziehen. Beim folgenden zweiten Umzug sollten sich dann alle mit Steinen und Knüppeln bewaffnen, die sie ebenfalls auf ihrem LKW mitgebracht hatten, und damit die Fenster der jüdischen Häuser zertrümmern. „Und beim dritten Umzug, meine Kameraden, geht’s richtig zur Sache. Dann nehmen wir uns jedes Haus einzeln vor! Da sollt ihr mal sehen, was dann passiert! Heil Hitler!“ Er warf die rechte Hand zum Hitlergruß nach vorne, wobei fast im gleichen Atemzug alle vor ihm Stehenden den Gruß ebenso zackig erwiderten. Er hatte seine Anordnungen mit einem Hass herausgeschrien, der davon kündete, dass jede Faser seines Selbst von dem Willen zur Zerstörung und Vernichtung durchdrungen war. Schwungvoll sprang er von dem Felsbrocken herunter, gab seinen Gefolgsleuten ein Zeichen und setzte sich mit ihnen an die Spitze des Fackelzugs.
Die Schönenbecker SA, die Feuerwehrleute und die Hitler-Jugend schlossen gekonnt beim Zug auf und folgten ihnen im festen Schritt. Jetzt stimmten die Männer vorne das Lied an, das sie bei früheren Umzügen schon häufiger mit größter Begeisterung aus voller Kehle gesungen hatten:

Wetzt die langen Messer
auf dem Bürgersteig.
Lasst die Messer flutschen
in den Judenleib!
Blut muss fließen knüppelhageldick.
Wir scheißen auf die Freiheit
der Judenrepublik.
Kommt einst die Stunde der Vergeltung,
sind wir zum Massenmord bereit.

Vom mystischen Lodern der Pechfackeln begleitet, marschierten sie, fein säuberlich nach Formationen getrennt im strammen Gleichschritt, Seite an Seite über die Adolf-Hitler-Straße und grölten aus Leibeskräften, dass die Welt vor ihnen verging. Die Mehrzahl der Anwohner beobachtete das Spektakel hinter halb zugezogenen Gardinen. Aber es gab auch eine ganze Reihe von Leuten, die vor die Tür geeilt waren. Aber nur wenige unter ihnen spendeten auch begeisterten Beifall. Den meisten lief angesichts dieses bedrohlichen Spektakels der Schauer eiskalt über den Rücken. Beklommen verharrten sie vor diesem tosenden Wahn, der auch die unschuldigen Seelen der ahnungslosen Jugendlichen in einen Taumel wahnwitziger Aggressivität hineinriss. Viele mögen gespürt haben, dass sich hier Schreckliches ankündigte. Aber statt aufzubegehren, erstarrten sie in ohnmächtiger Hilflosigkeit vor diesem organisierten, machtvoll daherkommenden Getöse.
Schon beim zweiten Durchlauf konnte man spüren, wie sehr die Begeisterung noch zugenommen hatte. In den flammenden Augen der Männer vorn an der Spitze spiegelte sich die Genugtuung über den durchschlagenden Erfolg, den sie mit ihrer Mission erzielt hatten, und sie heizten durch ihr lautes Grölen den anderen immer mehr ein. Bei knallendem Gleichschritt und gespenstischem Leuchten der Fackeln in sternklarer Nacht gab der Führer an der Spitze der Kolonne nun das entscheidende Kommando: „Jungs, schmeißt sie ein, die Scheiben! Lasst die Gläser klirren!“ Was war das für ein seltener, für ein ungewöhnlicher Spaß! Endlich ging’s mal richtig rund! Endlich mal Luft abzulassen und das zu tun, was schon seit Monaten, seit Jahren in einem brodelte. Und sie schlugen mit Lust drein. Die beiden Bänke, die vor Perlsteiners Haus standen, warfen sie mit Karacho um. Und während sie randalierten und die Scheiben klirrend zerschellten, rannten die wenigen Nachbarfrauen, die immer noch auf der Straße verharrten, entsetzt in ihre Wohnungen zurück. Manche schlössen noch in Windeseile die Blendläden, weil sie fürchteten, es könnte auch ein Knüppel oder Stein in ihrem Fenster landen. Als wenig später der SA-Mann an der Spitze des Zuges das Kommando gab, die Scheiben an Steinfelds Haus zu zerschlagen, sprang ein SA-Mann wild gestikulierend aus einer der hinteren Reihen und rief aufgebracht: „Nein, nicht werfen, das ist jetzt mein Haus! Da wohnt kein Jud‘ mehr drin. Die sind schon lange weg! Werft da keine Steine rein!“
Und so zogen sie weiter zu Rosenzweigs, dann zu Rika Rockmann, zu Sybille von Boom und zur Synagoge, wo die aufgeheizten Gemüter das Werk der Zerstörung fortsetzten.
Als die Truppe erneut Perlsteiners Haus erreichte, brüllte der Anführer, dass man meinen konnte, der Leibhaftige sei in ihn gefahren: „So, und jetzt stürmen wir die Judenhäuser und schlagen alles klitzeklein!“ Dabei schwang er die Fackel zum Zeichen, dass sie loslegen sollten. „Habt nur keine Hemmungen! Je mehr Hausrat durchs Fenster fliegt, desto besser! Zerstört, was ihr zerstören könnt! Das muss eine unvergessliche Nacht der Vergeltung werden! Am besten, ihr teilt euch in Gruppen auf: je eine Gruppe in je eine Judenhöhle!“
Einige SA-Männer, denen ein Trupp Jugendlicher folgte, stürmten mit einem dicken Baumstamm auf Perlsteiners Haustür zu. Mehrmals rammten sie gegen die Tür, bevor das Holz zersplitterte und die Öffnung so groß war, dass sie hindurchgehen konnte. Drinnen hörte man helle, schrille, dann wahnsinnige Schreie, die normalerweise bei jeder vernünftigen menschlichen Kreatur den Atem stocken ließen. Aber die verbrecherischen Eindringlinge jubilierten
und rannten mit brüllendem Kriegsgeschrei ins Haus.
Die anderen liefen unterdessen weiter bis vor Rosenzweigs Haus. Auch hier sonderte sich eine Gruppe ab. Einer der Männer zog eine Axt aus seiner Anzugjacke hervor und schlug mit wenigen Hieben die Tür ein. Elsa, Hugo Rosenzweigs Frau, und ihre unverheiratete Schwägerin Amalie hatten sich vor Todesangst in eine Ecke der Küche gedrängt. Sie standen zitternd und bebend aneinandergekauert. Die Frauen waren allein im Haus. Hugo hatte die Gestapo erst vor zwei Wochen ohne jegliche Vorankündigung mitten in der Nacht abgeholt. Elsa war damals sofort zu ihren Nachbarn gerannt, die trotz aller Kontrollmaßnahmen und Strafandrohungen der Partei immer noch Kontakt zu ihnen pflegten. Tränenüberströmt hatte sie ihnen berichtet, was passiert war. Ihre Nachbarn hatten versucht, sie zu trösten, aber helfen konnten sie nicht. Hugo war verschwunden und keiner wusste, wo man ihn hingeschleppt hatte.
Die SA-Männer packten die beiden Frauen brutal am Arm und zerrten sie zur Kellertür. „Verpisst euch nach unten, aber schnell, sonst geht’s euch auch noch an den Kragen!“ Dann feuerten sie die Jugendlichen an: „Hier, so müsst ihr’s machen! So geht’s!“ Und sie rissen mit einem Ruck die Gardinen von den Fenstern, griffen einen Blumentopf und schmissen ihn samt Blume in den großen Kochtopf auf dem Herd, in dem die Suppe brodelte, so dass sie überschwappte und es auf der heißen Herdplatte zischte und dampfte. Dann schnappten sie sich die Stühle und zerschlugen sie mit satanisch lustvoll blitzenden Augen. Mit wildem Geschrei stießen sie den Küchenschrank um. Das darin aufbewahrte Geschirr zerbrach in tausend kleine Scherben. Als sie die Küche in ein Chaos verwandelt hatten, liefen sie in die zur Straße hin gelegene gute Stube. Einem der Männer fiel dabei sofort ein kunstvoll geschnitztes, kleines schwarzes Holzkästchen auf, das auf dem oberen Regal einer Anrichte stand. Er öffnete es neugierig. „Schaut nur, was ich gefunden hab!“, rief er voller Begeisterung. Dort lagen, auf einem roten Samtkissen gebettet, die beiden Orden, mit denen Hugo Rosenzweig im ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden war: das EK1 und das Verwundeten-Abzeichen. „Ist heute nicht Heldengedenktag?“, rief er mit einem diabolischen Grinsen. Demonstrativ steckte er sich die beiden Orden an sein braunes Hemd, sprang durch den Flur zurück in die Küche und tanzte mit triumphalem Geschrei ausgelassen durch die Trümmer. Dann lief er den anderen hinterher, die zwischenzeitlich das Werk der Zerstörung auch im Wohnzimmer vollendet hatten und nach oben in den ersten Stock gerannt waren. Auch hier demolierten sie, was nur zu demolieren war.
„So, und jetzt geht’s in den Keller! Den dürfen wir nicht vergessen!“ Und vor den Augen der jämmerlich winselnden Frauen schmissen sie sämtliche gefüllten Einmachgläser, die Elsa mit ihrer Schwägerin in den letzten zwei Jahren in unermüdlicher Arbeit eingekocht hatte, nacheinander auf den Boden, dass sie mit lautem Knall zersplitterten. Erst als kein Glas mehr im Regal stand, gaben sie Ruhe und wateten mit ihren Stiefeln lachend und feixend durch die wohl zwanzig Zentimeter hohe Pampe aus Obst, Gemüse, Fleisch und Wurst. Zwischen Glasscherben, Splittern und Gummiringen schwammen die gesamten Vorräte, die die Rosenzweigs über den bevorstehenden Winter hätten bringen sollen.
Und so wie die eifrigen Schergen Hitlers das teuflische Werk der mutwilligen Zerstörung bei Perlsteiners und Rosenzweigs vollbrachten, so vollbrachten sie es auch bei den beiden alten Frauen Rika Rockmann und Sybille van Boom. Die fünfundsiebzigjährige Sybille, die sich anfänglich noch gegen die Eindringliche zur Wehr setzte, zerrte die mörderische Bande unter Lachen und Grölen an ihren weißen langen Haaren die Treppe hinunter, so dass es fast an ein Wunder grenzte, dass sie dabei nicht ihr Leben einbüßte. Auch Rika stießen sie mit Gewalt aus ihrem Haus. Das wenige Hab und Gut, das die beiden alten Frauen hatten, schmissen sie auf die Straße. Es waren auch einige Söhne und Brüder von den Frauen unter ihnen, denen Rika einst in ihrem Haus mit viel Liebe und Geduld das Stricken beigebracht hatte.
Dann stürmten sie die Synagoge. Mit einem dicken Baumstamm rammten sie erst die vordere Eingangstür, dann die hintere Tür, die zur alten Stadtmauer hin lag. Sie zerschlugen das Lesepult und etliche Stühle, rissen den Vorhang und die Thorarollen hinunter und warfen sie in den Garten eines Anliegers. Als ein SA-Mann sie anzündete und die Flammen zur Freude aller hell in der Dunkelheit aufloderten, schrie einer der Umherstehenden: „Und jetzt zünden wir die Synagoge an, damit die Flammen bis zum Himmel züngeln!“
„Seid ihr verrückt geworden!“, brüllte einer der Feuerwehrleute aufgebracht. „Wollt ihr etwa das ganze Dorf in Brand setzen? Hier ist doch alles aneinander gebaut. Wenn die Synagoge brennt, dann brennt bald ganz Schönenbeck!“
„Scheiße, dass uns dieser Spaß heute entgehen muss!“, rief ein SA-Mann. Dann lasst uns noch ein paar Bänke verheizen, damit wir uns wenigstens noch ein bisschen am Feuer wärmen können!“
Daraufhin sprangen einige seiner Kumpel mit Hurra auf, um noch mehr Inventar aus der Synagoge nach draußen zu holen und auf das Feuer zu werfen.
Der alte Gustav Perlsteiner war mit seiner kranken Frau, seiner Tochter Paula und seiner Enkelin unter Weinen und Wehklagen vor der zerstörerischen Bande nach draußen ins Freie geflohen. Auch der mutige Eingriff eines Nachbarn, der mit seiner Mistgabel auf die wild wütenden Nazis losgerannt war, um sie an ihrem teuflischen Werk der Zerstörung zu hindern, hatte sie nicht abgehalten. Während die Nazis drinnen alles demolierten, stand die Familie zitternd draußen in der Novemberkälte. Aber wo sollten sie jetzt hin? Bei dem Nachbarn, der ihnen geholfen hatte, konnten sie nicht bleiben. Die Nazis hatten schon gedroht, auch bei ihm alles kurz und klein zu schlagen. „Ihr Judenbrut, macht dass ihr wegkommt!“, hörten sie jemanden aus der Dunkelheit heraus brüllen. Gustav fasste die Hand sei den aus der Dunkelheit heraus brüllen. Gustav fasste die Hand seiner kleinen achtjährigen Enkeltochter Marga, die das Kriegsgetöse aus dem Schlaf gerissen hatte und die, vor Kälte zitternd, verwirrt vor sich hinwimmerte, legte seinen anderen Arm um seine Tochter Paula, die ihre kranke, geistesverwin-te Mutter stützte, und flüsterte:
„Lasst uns gehen, irgendwohin gehen!“
Gustav führte seine Familie in die gegenüberliegende Straße. „Am besten zum katholischen Krankenhaus – die Schwestern werden uns nicht verstoßen“, fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf, „und am besten über die Hauptstraße.“
Verängstigt schlichen sie an den Häusern der „Hauptstraße entlang in Richtung Katholische Kirche, dann weiter bis zum Krankenhaus. Auf sein Klopfen und Betteln hin öffnete eine Schwester die Tür. Sie hatten keine Ahnung, was an diesem Abend im Ort passiert war, und trauten ihren Ohren nicht, als Gustav ihnen ihr Leid offenbarte. „O, heilige Mutter Gottes!“, rief sie entsetzt, wobei sie sich dreimal bekreuzigte, „dass es so weit kommen muss! Kommt rein, schnell!“ Von göttlichem Erbarmen beseelt und von Mitleid gerührt, führte sie die Familie auf ein freies Zimmer, in dem sogar ein Bett zum Schlafen bereitstand. Aber schon eine Stunde später pochte es unten an die Eingangstür.
„Aufmachen, Polizei! Wir haben gehört, dass ihr hier Juden versteckt haltet!“ Eine der Schwestern eilte ans Fenster und rief: „Was fällt euch ein, uns aus dem Schlaf zu reißen. Es ist mitten in der Nacht! Außerdem ist kein Mensch hier gewesen. Ihr müsst euch irren! Gute Nacht!“ Mit einem kräftigen Schlag schloss sie sofort wieder das Fenster.
„Perlsteiner, habt ihr gehört, dass die euch suchen?“, fragte sie flüsternd durch die Tür des Schlafzimmers, in dem er und seine Familie steckte. „Ihr könnt allenfalls bis morgen früh hier bleiben. Die kommen wieder und werden unser ganzes Haus durchsuchen. Wenn die euch finden, dann ist hier der Teufel los. Das kann ich als Oberin nicht verantworten. Am besten, ihr brecht vor Sonnenaufgang wieder auf!“
In aller Frühe machten sie sich erneut völlig übermüdet, erschöpft und ohne jede Hoffnung auf den Weg zurück nach Hause. Diesmal nahmen sie den kleinen Pfad durch das Bruch. Im Osten war der Himmel von der aufgehenden Sonne feuerrot, so dass man meinen konnte, die ganze Welt dort hinten stünde in Flammen. Andererseits lag eine Ruhe und Friedfertigkeit über dem Ort, die Gustav daran zweifeln ließ, ob die schrecklichen Erlebnisse der letzten Nacht tatsächlich Realität oder nicht vielmehr ein böser Albtraum, eine pure Einbildung der Fantasie gewesen waren. Als sie aber aus der engen Mühlenstraße in die Hauptstraße traten, sahen sie erneut das ganze Dilemma. Welch ein Anblick! Auf der Treppe zum Hauseingang lag das Klavier, total demoliert. Der Deckel war halb aus dem Scharnier gerissen, und die“ zerborstenen Saiten staken in einem wilden Durcheinander in der Luft. Auf die Tasten hatte jemand mit einem Beil eingeschlagen. Mitten auf der Straße lag die Nähmaschine. Sie mussten sie von oben aus dem ersten Stock, dort wo sie gestanden hatte, aus dem Fenster geworfen haben. Daneben lag der wunderschöne goldene Vogelkäfig, platt getreten. Der leuchtend gelbe Kanarienvogel steckte zerquetscht zwischen den dünnen Metallstäben. Er war tot.
Der alte Perlsteiner, der regungslos vor den Trümmern verharrte, legte die Hände vors Gesicht und fing jämmerlich an zu weinen. Auch Paula, die sich an den Vater geklammert hatte, brach in Tränen aus. Die kleine Marga lief zum Vogelkäfig, schob ihre kleine Hand durch die verbogenen Gitterstäbe, nahm das tote Tier heraus, lief zum Opa und sagte traurig: „Opa, schau mal, sie haben ihn totgetreten. Mein lieber kleiner Kicko. Sie haben ihn einfach totgetreten!“ Der alte Perlsteiner legte seine Arme um die beiden Frauen. „Kommt, lasst uns reingehen!“ Da die vordere Tür durch das Klavier verbarrikadiert war, gingen sie hinten durch den Stall ins Haus. Die Küche, ja die ganze Wohnung war nicht wiederzuerkennen. Alles war zerstört: Tische und Stühle waren zerschlagen, die Regale und Lampen hatten sie von der Wand und aus der Decke gerissen und ebenfalls zertrümmert. Die Gardinen häuften sich an zerbrochenen Stangen auf dem Boden. Sogar die Telefonleitung hatten sie aus der Wand gezerrt. Paula stürzte sich auf den Vater und rief verzweifelt: „Vater, warum haben sie uns das nur angetan? Was haben wir ihnen denn getan?“ Sie brach erneut in verzweifeltes Weinen aus. „Und wie soll’n wir das alles wieder herrichten? Nein Vater, ich kann es nicht! Es geht nicht! Lasst uns hier weggehen, Vater, bitte!“
„Aber wo sollen wir denn hingehen? Wir haben kein anderes Zuhause“, antwortete der Alte matt.
Während sich Paula unter Tränen und wie in Trance daran machte, ein wenig Ordnung zu schaffen, zog Gustav aus dem chaotischen Durcheinander am Boden seinen Gebetsschal und seine Tefillen hervor. Er ging zurück durch den Stall bis an die hintere Eingangstür, die nach Süden gen Jerusalem gerichtet war, legte die Gebetsriemen und den Gebetsschal um, fiel auf die Knie nieder, erhob seine beiden Hände und rief verzweifelt: „Warum nur, Gott, warum hast du dieses zugelassen? Was haben wir Juden Schreckliches getan, dass wir immer wieder den Zorn der Menschen auf uns ziehen? Herr, ich verstehe das alles nicht. Haben wir nicht immer ehrfürchtig gelebt im Glauben, haben die Gesetze gehalten, so wie wir es von unseren Vätern gelernt haben? Warum werden wir immer wieder verstoßen? Warum dieses Schicksal? Herr, ich begreife es nicht!“ Und er neigte seinen Kopf zu Boden.

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