Der Krieg vertreibt Menschen aus ihrer Heimat

Acht junge Syrer berichteten in der Gesamtschule über ihre Flucht

Was bedeutet es, aus einem Land zu fliehen, in dem Krieg, Hunger und Unsicherheit den Alltag bestimmen? Wie fühlt es sich an, in einer Gesellschaft anzukommen, in der es andere Wertvorstellungen und Lebensbedingungen gibt?

Wie geht man damit um, wenn man in Deutschland angekommen ist, der Krieg zu Hause jedoch weitergeht?

Antworten auf diese und ähnliche Fragen erhielten gestern ganztägig in der Gesamtschule Schermbeck die Schüler der EF und einige Zehntklässler, die die Austauschschüler aus dem polnischen Lublin begleiteten, von acht syrischen Flüchtlingen.

Life Back Home

Sie alle arbeiten an dem Projekt „Life Back Home“ mit, das entwicklungspolitische und antirassistische Bildungsarbeit in Schulen mit den Themen Flucht und Migration verbindet. Gefördert durch „The Global Experience“, eine gemeinnützige Organisation und ein internationales Jugendmediennetzwerk mit Sitz in Münster und Berlin, bildet „Life Back Home“ junge Geflüchtete in Deutschland zu Bildungsreferenten aus, die anschließend Schulen in Deutschland besuchen.

Schulleiter Norbert Hohmann (l.) und die Organisatorin Rita Kersting (r.) begrüßten acht syrische Flüchtlinge und ihre Begleiter der Gruppe „The Global Experience e.V.“, die die Gesamtschüler über unterschiedliche Aspekte des Flüchtlingsdaseins informierten. Foto: Helmut Scheffler

Kriegsbedingte Veränderungen

Nach einer kurzen Begrüßung durch den Schulleiter Norbert Hohmann und der Vorstellung des Projektes durch die Organisatorin und EF-Beratungslehrerin Rita Kersting übernahmen jeweils zwei Flüchtlinge in verschiedenen Klassenräumen zeitgleich die Berichte über ihr Leben in der früheren Heimat, über die kriegsbedingten Veränderungen in ihrem Heimatland, über die Flucht aus dem Lande, ihre beschwerliche Reise durch mehrere Länder nach Deutschland und über ihre Integration an den neuen Orten ihres Lebens.

„Syrien vor dem Krieg war für viele Leute eine Geschichte von Glück, Verständnis und Liebe“

Wir begleiteten die 22-jährige Marah und den 28-jährigen Jafar zu ihren Vortragsräumen. Beide lebten früher in der syrischen Hauptstadt Damaskus, der ältesten Hauptstadt der Welt. „Syrien vor dem Krieg war für viele Leute eine Geschichte von Glück, Verständnis und Liebe“, fasste Marah in gut verständlichen deutschen Formulierungen das Leben in ihrer Heimatstadt vor dem Krieg zusammen. Sie erlebte dann mit, wie ihre Mutter als Journalistin durch die im Lande gewachsene Meinungsunfreiheit so unter Druck geriet, dass sie den Beruf aufgab und ein Geschäft eröffnete.

Autobombe

Atemlose Stille herrschte unter den Zuhörern, als Marah von den kriegsbedingten Veränderungen ihrer Stadt berichtete, die Ereignisse des 6. August 2013 schilderte, als ihre beste Freundin Raghad von einer Autobombe tödlich getroffen wurde. Mit 19 Jahren machte sie sich vor drei Jahren auf den Weg von Syrien über den Libanon, die Türkei und Griechenland, über Ungarn und Österreich nach Deutschland. „Das war wie ein Traum“, beschrieb Marah den Moment ihrer Ankunft in Deutschland. Nach Aufenthalten in Dortmund, Köln und Aachen kam sie nach Ostbevern.

Im ersten Teil der Ganztagsveranstaltung berichteten jeweils zwei syrische Flüchtlinge in verschiedenen Klassenräumen zeitgleich über ihre Erlebnisse als Flüchtlinge. Foto: Helmut Scheffler

Militärdienst

Jafar schilderte die politischen Hintergründe für den Kriegszustand in Syrien, seine Entscheidung, im Jahre 2016 Syrien zu verlassen, um nicht zum Militärdienst verpflichtet zu werden, seine Flucht über die Türkei nach Deutschland, seine Aushilfsarbeiten in Deutschland, um Geld zu verdienen, und die Fortsetzung seines bereits in Syrien begonnenen Studiums der Elektrotechnik, um den Mastertitel zu erwerben.

Wichtigste Erfahrung

„Ich fand es interessant, mal einen anderen Eindruck vom Leben der Flüchtlinge zu bekommen, als er durch die Medien vermittelt wird“, fasste die 17-jährige Pia Schwalenberg die Schilderung aus der Sicht betroffener Flüchtlinge zusammen. Wie ihre Mitschüler hatte sie im Vorfeld Janne Tellers Buch „Krieg“ gelesen und das Thema Flüchtlinge im Unterricht mehrerer schulischer Fächer kennen gelernt. Aber die unmittelbare Begegnung mit jungen Menschen, die eine Flucht hautnah erlebt haben, war für die meisten Schüler die wichtigste Erfahrung des gestrigen Tages, wie auch eine mit Videokamera und Mikrofon eingefangene Umfrage des ersten Workshops im Verlauf des Nachmittags ergab.

Im Mittelpunkt des vierten Workshops stand ein Planspiel, in dessen Verlauf zwei Parteien mit unterschiedlicher Wertschätzung von Flüchtlingen aufeinanderstießen. Foto: Helmut Scheffler

Im zweiten Workshop sollten die Schüler die Frage „Was bedeuten Vorurteile?“ szenisch umsetzen. Im Mittelpunkt der szenischen Darstellung in der schuleigenen Aula stand ein neuer Schüler, der als Flüchtling in die Klasse kam.

Fragen

Die Mitglieder des dritten Workshops sollten auf der Basis eines Krieges in Mitteleuropa und der erforderlichen eigenen Flucht Antworten auf eine Reihe von Fragen suchen. Was für Schwierigkeiten erwarten mich im neuen Land? Wie soll ich die Flucht planen? Was nehme ich mit? Wie teuer ist eine Flucht? Wohin soll ich fliehen?

Eine kleine Schülergruppe, die von Janusz Hamerski (l.) unterstützt wurde, befragte Schüler aller vier Workshops nach ihren Eindrücken von dem ganztägigen Projekt „Life Back Home“. Foto: Helmut Scheffler

Im Mittelpunkt des vierten Workshops stand ein Planspiel. Eine Gruppe plante eine neue Partei, die sich nun auf einen aktuell bevorstehenden Wahlkampf vorbereitete. Dabei stieß diese Partei auf eine andere Partei, mit der man sich über die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland werden solle, auseinandersetzen musste. „Sind Flüchtlinge willkommen oder eine Bedrohung?“ , war eine entscheidende Fragestellung, mit der sich die beiden Parteien befassen mussten.

In der halbstündigen Abschlussrunde am Nachmittag wurde Bilanz gezogen. Die positive Bewertung des Tages durch die allermeisten Schüler spiegelte sich auch in jenem Video wider, das eine kleine Schülergruppe mit Unterstützung Janusz Hamerskis auf der Basis der Befragung von Mitgliedern aller Workshops tagsüber erstellt hatte. H. Scheffler

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Heimatreporter
Unter der Artikel-Kennzeichnung "Heimatreporter" postet der Schermbeck-Dammer Helmut Scheffler seit dem Start dieser Online-Seite im Jahre 2013 Artikel über vergangene und gegenwärtige Entwicklungen der Großgemeinde Schermbeck. Seit 1977 schreibt der inzwischen pensionierte Mathematik- und Erdkundelehrer für Lokalzeitungen. 1990 wurde er freier Mitarbeiter des Lokalfunks "Radio Kreis Wesel", darüber hinaus hat er seit 1976 zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte Schermbecks in niederrheinischen und westfälischen Schriftenreihen veröffentlicht. 32 Jahre lang war er Redakteur des "Schermbecker Schaufenster". Im Jahre 2007 erhielt er für seine niederrheinischen Forschungen den "Rheinland-Taler" des Landschaftsverbandes Rheinland.