Zur Kindheit gehörten auch Bomben

Hermann Ostrop erinnert an den Frontübergang in Gahlen-Besten

Den Frontübergang, der sich in diesen Tagen im Bereich der rheinisch-westfälischen Grenze zum 75. Male jährt, hat der heute 85-jährige Schermbecker Hermann Ostrop gleich zweimal erlebt: in Dorsten und in Gahlen. Seine Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegsjahre hat der gebürtige Dorstener in einem Buch zusammengefasst. Auf zehn Seiten dieses Buches berichtet Ostrop über die Erlebnisse seiner Familie in den Tagen des Frontübergangs. Diesem Buch wurden die folgenden Abschnitte entnommen, welche die bekannten Kriegsdarstellungen der Militärhistoriker um die Perspektive der betroffenen Bevölkerung ergänzt.

Hermann Ostrop berichtet in seinem Buch „Meine Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegsjahre“ auch über die Bombenangriffe in Dorsten und über den Frontübergang in Gahlen-Besten. Foto: Helmut Scheffler

22. März 1945 in Dorsten: „Es war ein wunderschöner Vorfrühlingstag, strahlend blauer Himmel am Morgen. Ich drängte meine Eltern zum Hause des Großvaters in Deuten zu gehen. Mein Vater wollte nicht, er hatte Bedenken, dass uns die Tiefflieger in Venhoffs Feld überraschen könnten. Von den Flugzeugen aus wurde auf alles geschossen, was sich bewegte. Ich weiß nicht, ob wir in Dorsten überlebt hätten, auch in Nähe unseres Bunkers fielen schwere Bomben. Die ganze Nachbarschaft hatte sich auf den Weg in ländliche Gebiete gemacht.“

Aufenthalt in Deuten: „Im Keller des Hauses der Familie Lüer, Mutters Elternhaus in Deuten, verbrachten wir den Fliegeralarm während des Angriffes auf die Stadt Dorsten. Hier fühlten wir uns sicher, eigentlich war das ein großer Irrtum. Hinter dem Haus nur Felder, vor dem Haus ein großes Waldgebiet. Versteckt in dem Waldgebiet zwischen Deuten und Wulfen war ein riesiges Munitionslager der Wehrmacht, Muna genannt. Wäre das Lager von Bomben angegriffen worden, wären die Folgen für Deuten verheerend gewesen. Gut, dass wir das damals nicht gewusst haben. Ich erinnere mich gut. Nach dem Fliegeralarm war ich im Garten des Hauses. Von Dorsten her kam eine graue Wand aus Staub, der Himmel über Dorsten war dunkel. Am späten Nachmittag standen wir vor dem Haus. Zuerst kam ein älterer Mann, Johann Ratte aus Dorsten. Vater kannte ihn und sprach ihn an: ´Jan, wie isset in Dossen?`´Et is alles kapott„. Ohne Gruß, mit einem sehr traurigen Gesicht schob er sein Fahrrad weiter, gefolgt von seiner Frau.“

Zurück nach Dorsten: „Vater, Mutter und ich machten uns auf den Weg nach Dorsten, wir wollten ja zu unserer Wohnung auf der Hardt. In Vennhoffs Feld kamen uns immer mehr Leute entgegen. Unter ihnen war auch Mutters Schwester mit vier Kindern, alle voll Kalkstaub. Sie waren bei dem Bombenangriff in der Innenstadt im Bunker. ´Wie hebbt nix mehr`, das waren ihre einzigen Worte…. Wir nahmen den Weg über die Bismarckstraße. Auch in Hervest-Dorsten waren viele Kriegsschäden zu sehen. Auf der Lippebrücke sah ich deutsche Soldaten mit grünen Rohren hantieren. Vielleicht war es die für die spätere Sprengung der Brücke vorgesehene Munition. Ein Gang durch die Innenstadt war nicht möglich. Überall Schutt und Trümmer, überall Feuer… Allmählich kam die Dämmerung und zwischen Bäumen und Sträuchern in Höhe des ´Finkennestes` sahen wir lodernde Flammen im Stadtgebiet.“

Nur kurzzeitig in der Wohnung: „Wir erreichten unsere Wohnung auf der Baldurstraße. Gott sei Dank, unsere Wohnung war noch heil. Nur in der Kommode im Zimmer unserer Eltern steckte ein Granatsplitter. Mutter legte dann noch ein Brot in ihre Einkaufstasche, dazu kam eine Kanne Kaffee und schon verließen wir das Haus in Richtung Lehmberg. Auf dem Lehmberg verbrachten wir die Nacht auf der Tenne vor den Kühen auf einem Strohlager. Der Hof gehörte der Familie Grefer-Wolter. Die Tenne war voller Leute aus der Stadt. Soldaten liefen hin und her. Es war eine ganz unruhige Nacht. Draußen immer heller Lichtschein, er stammte angeblich von feindlichen Aufklärungsflugzeugen.“

Weiter nach Besten: „Am nächsten Morgen gingen wir in Richtung Gahlen-Besten, dort wohnte Tante Lena, Vaters Schwester. Tante Lena hatte eine Landwirtschaft und früher gehörte zu dem Haus auch eine Gastwirtschaft. Auch in deren Haus herrschte reger Betrieb. Alle suchten Schutz in ländlichen Gebieten. Nur raus aus der Stadt!“

In dem Haus der Familie Weber in Gahlen-Besten erlebte Hermann Ostrop mit seiner Familie den Frontübergang. Repro: Helmut Scheffler

Die Fron rückt näher: „Am Abend vor dem Frontübergang kam ein Trupp deutscher Soldaten auf den Hof. Nach einer Rast bat Vater die Soldaten, doch weiter zu ziehen. ´Wenn die Amis oder Tommys kommen, dann schießen sie uns doch den Hof in Grund und Boden`, meinte er. Der das Kommando führende Soldat drohte mit standrechtlicher Erschießung wegen Wehrkraftzersetzung. Gott sei Dank blieb es nur bei der Drohung. … Wir alle verbrachten die Nacht im Keller des Hauses. Es gab für alle nur wenig Platz. In der Nacht hörte das Rattern der Maschinengewehre nicht auf. Man hatte den Eindruck, als seien sie direkt vor dem Kellerfenster aufgebaut. In den frühen Morgenstunden kamen dunkelhäutige Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren in den Keller. Wir verhielten uns alle still. Aber auch die fremden Soldaten hatten Angst und Schweißperlen auf der Stirn. Im Haus hatten sie wohl eine Funkstation eingerichtet. Die Möbel wurden aus dem Fenster geworfen, alle Zimmer waren leer.“

Düstere Spuren des Frontübergangs: „Zu Essen gab es wenig. Tante Lena hatte es irgendwie geschafft, einen Topf mit Hafergrütze zu besorgen, alles ohne Zucker. Wenn den Kindern die Suppe zu heiß war, wurde kurzerhand mit kaltem Wasser nachgeholfen. Einige Tage blieben wir im Keller. Vor dem Haus lag ein deutscher Soldat, den Kopf vornüber gebeugt, der Nacken war durchgetrennt. Das Bild von dem toten Soldaten habe ich noch heute deutlich vor Augen. Es war der deutsche Soldat, der sich am Abend auf dem Hof verschanzt hatte, als alle seine Kameraden abgezogen waren. Er hatte das Feuer auf den anrückenden Feind eröffnet und war dann bald gefallen. Vater und Vetter Johann Weber haben ihn in einem Wäldchen neben dem Haus beerdigt.

Zurück nach Dorsten: „Wenige Tage nach dem Frontübergang machten wir uns wieder auf den Weg nach Dorsten. Nach dem Verlassen des Hauses bemerkten wir auf der Landstraße eine größere Gruppe Männer und Frauen, es waren wohl ehemalige Zwangsarbeiter, die auf einen Lkw stiegen. Auf dem Fußweg durch den Kiesberg wurden wir ununterbrochen von vorbeifahrenden alliierten Militärfahrzeugen begleitet. Aber alles ganz ohne Gefahr. Es war unmittelbar vor Ostern. Vater half an den Feiertagen in der Nachbarschaft beim Dachdecken und bei Aufräumungsarbeiten. Bevor die Front näher rückte, wurden die Kanal- und Lippebrücken noch von der deutschen Wehrmacht gesprengt. Die Alliierten hatten in Dorsten schnell für Ersatzbrücken gesorgt.“

Militärischer Hintergrund: Aus den erhalten gebliebenen Aufzeichnungen der Soldaten ergeben sich genaue Daten für die Truppenbewegungen, die Hermann Ostrop miterlebt hat. Nach dem Übergang des 16. US-Korps über den Rhein zwischen Wallach und Mehrum begann die systematische Eroberung des Kreises Dinslaken, zu dem Gahlen bis zum 31.12.1974 gehörte. Am 23. März wurde Dinslaken zerstört, der 24. und 25. März wurden zu Schicksalstagen für Hiesfeld. Am 25. März wurden die Testerberge erobert. Von der Kommandostelle im Bruckhausener Letkampshof aus koordinierte General Anderson die Truppenbewegungen des 16. Korps mit der 30. und 79. Division. Durch die Eroberung Hünxes am 26. März stand den Amerikanern der Weg ins Lippetal offen. Abends standen die Spitzen der 30. Division schon vor Gahlen, obwohl die 116. Panzerdivision mehrere Male hartnäckig Widerstand leistete. Der deutsche Wehrmachtsbericht vermerkt, dass die amerikanischen Panzerspitzen am 27. März Gahlen erreichten. Dass war der Dienstag vor dem Osterfest. H.Scheffler

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Heimatreporter
Unter der Artikel-Kennzeichnung "Heimatreporter" postet der Schermbeck-Dammer Helmut Scheffler seit dem Start dieser Online-Seite im Jahre 2013 Artikel über vergangene und gegenwärtige Entwicklungen der Großgemeinde Schermbeck. Seit 1977 schreibt der inzwischen pensionierte Mathematik- und Erdkundelehrer für Lokalzeitungen. 1990 wurde er freier Mitarbeiter des Lokalfunks "Radio Kreis Wesel", darüber hinaus hat er seit 1976 zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte Schermbecks in niederrheinischen und westfälischen Schriftenreihen veröffentlicht. 32 Jahre lang war er Redakteur des "Schermbecker Schaufenster". Im Jahre 2007 erhielt er für seine niederrheinischen Forschungen den "Rheinland-Taler" des Landschaftsverbandes Rheinland.