Die Flüchtlinge unter uns – wer sind sie?

Die Flüchtlinge unter uns – wer sind sie?
Pfarrer i. R. Wolfgang Bornebusch hat sich vorgenommen, Flüchtlinge, die es hierher nach Schermbeck verschlagen hat, zu interviewen und ihre Fluchtgeschichten festzuhalten. Ihre Veröffentlichung soll dazu beitragen, ein wenig mehr darüber zu erfahren, was für Menschen mit was für Geschichten und Problemen zu uns kommen und nun mit uns leben.

Ammar Jlilati, den ich in seiner Schermbecker Bleibe besuche, ist fast 28 Jahre alt, ist Kurde. Er spricht Kurdisch, natürlich, aber auch Arabisch, Türkisch, Englisch, ein bisschen Hebräisch – und ein paar Brocken Deutsch kommen ihm auch schon über die Lippen. Soviele Sprachen möchte ich sprechen können.
Gefragt nach seiner religiösen Zugehörigkeit, gibt er sich als Muslim zu erkennen, als Sunnit. Und er fügt ausdrücklich hinzu: „Aber ich bin offen für alle anderen!“ Und meint damit, so verstehe ich ihn, nicht nur seine schiitischen Glaubensbrüder, sondern auch Christen und Juden.

Ammar Jlilati
Ammar Jlilati ist ein musikbegeisterter Mensch

Ammar ist ein musikbegeisterter Mensch und mir fällt auf, dass zu seinen Favoriten auf diesem Gebiet abgesehen von Größen, die uns hier in Deutschland ebenfalls ein Begriff sind, auch israelische Sänger gehören.

Zu unserer Überraschung stellen wir darüber hinaus fest, dass wir beide die lateinamerikanische Musik sehr lieben. So lade ich ihn ein zum nächsten Konzert in der St. Georgskirche, wenn es denn für ihn kein Problem ist, eine christliche Kirche zu betreten. Auf dem Programm steht lateinamerikanische Musik zur Weihnachtszeit. Er will kommen. Gerne.

Aleppo – eine ehemals bedeutende Handelmetropole
Bis zu seiner Flucht vor etwa dreieinhalb Jahren war er in Syrien zuhause. Mit seinen Eltern, einer Schwester und vier Brüdern lebte er in Aleppo, einer ehemals bedeutenden Handelsmetrople, einem Ort mit Geschichte. Bereits um 1900 v. Chr. wird Aleppo zum ersten Mal erwähnt. Es hat die Hethiter gesehen, Alexander den Großen, die Römer, war Teil des Byzantinischen Reichs usw.
In den zerstörten Häusern der Straße, in der seine Familie lebte, hockten Scharfschützen. Notgedrungen verbarrikadierte die Familie sich in ihrer Wohnung. War man gezwungen, irgendwelche Besorgungen zu machen, damit das tägliche Leben weitergehen konnte, so war dies eine Aktion auf Leben und Tod. Aber auch die verbarrikadierte Wohnung gab letztlich keine Sicherheit.

Bei jedem Bombenangriff, immer, wenn ein Flugzeug oder Hubschrauber im Anflug zu hören war, lebte die Familie mit der Angst, dass ihr Haus Ziel des nächsten Angriffs sein könnte und gleich in Schutt und Asche liegt.

Herrn Jlilati. (480x640)

Nur die Ärmsten der Armen leben heute in den Trümmern von Aleppo

Die Leserinnen und Leser dieser Geschichte, die sich noch an die Zeiten des zweiten Weltkriegs erinnern können, werden eine Vorstellung davon haben, von welchen Ängsten und Sorgen der Alltag in einer solchen Situation begleitet ist. Deshalb leben heute in den Trümmern von Aleppo nur noch die Ärmsten der Armen, die nicht einmal mehr Geld für eine Fahrt aufbringen können, die sie zur türkischen Grenze bringt. Alle anderen haben die Stadt inzwischen verlassen.

Zerissene Familie
Ammars ältester Bruder verließ Syrien als Erster. Noch heute ist er in Istanbul zuhause. Ammar mit seinen Eltern und seinen beiden anderen Brüdern folgte ihm nach einer Weile dorthin. Nur die Schwester, die Älteste unter den Geschwistern, ist geblieben. Sie ist bereits verheiratet und Mutter von drei Kindern. Aber auch sie hat Aleppo verlassen. Sie floh mit ihrer Familie in den Norden Syriens, in kurdisches Gebiet. Sie lebt dort mit ihrer Familie unter äußerst schwierigen Bedingungen. Der telephonische Kontakt zu ihr, so sagt Ammar, ist Glücksache. Die Stromversorgung muss dann gerade mal wieder funktionieren. Und das ist keine Selbstverständlichkeit!

Aleppo liegt in Schutt und Asche
Zurück nach Aleppo zu gehen ist in diesen Tagen aber keine Alternative. Das entvölkerte Aleppo liegt in völlig Trümmern. Außerdem rüsten sich dort gerade Assads Armee, unterstützt von der (irangestützten) libanesischen Hisbollah, die dürftig ausgerüsteten Rebellen der „Freien Syrischen Armee“ und als dritte Partei kampferfahrene Mitglieder der IS-Terror-Miliz (vor allem aus dem Irak und aus Tschetschenien) zur nächsten Schlacht.

Deutschland steht für Tolleranz und Offenheit
Ammar zog es von Istanbul weiter nach Deutschland. Schon als Jugendlicher hat er von Deutschland geträumt. Deutschland steht für ihn für Toleranz, für Offenheit gegenüber Menschen anderer Rasse, Kultur und Religion, für funktionierende staatliche Strukturen, für einen Staat, der in der Lage ist, Recht und Gesetz durchzusetzen und für Sicherheit sorgt. In Deutschland sieht er für sich mit seiner Ausbildung eine Zukunft. Er hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, einen Abschluss als Ingenieur für Metallbau und hat bereits die Erfahrung von einigen Jahren Praxis in seinem Beruf auf dem Buckel. Stolz zeigt er mir auf seinem Smartphone Fotos von den hoch modernen Anlagen, an denen er in Aleppo, als man dort noch leben konnte, gearbeitet hat.

Der lange beschwerliche Weg seiner Flucht
Von der Türkei aus gelangte er mit einem Boot zur griechischen Insel Kos, wo er sich 12 Tage lang aufhielt. Er wurde dort einem Flüchtlingslager zugewiesen. Da er sich aber frei bewegen durfte, zog er es vor, irgendwo in einem Park unter offenem Himmel zu nächtigen.

Die Lage im Flüchtlingslager empfand er als zu bedrohlich. Von der Insel Kos wurde er mit vielen anderen Flüchtlingen mit einem Passagierschiff zum griechischen Festland transportiert. Über Athen und Saloniki führte ihn seine Fluchtroute – zu Fuß, mit der Bahn oder mit dem Bus – über Makedonien, Serbien und Ungarn schließlich nach Deutschland.

In Makedonien hatte man ihn mit seinem Rucksack seiner ganzen Habe beraubt. Besonders ungern aber erinnert er sich an den dann folgenden Aufenthalt an der serbischen Grenze. Dort ließ man ihn mit vielen anderen erst am folgenden Tag passieren. So musste er dort die Nacht bei ziemlicher Kälte im Freien überstehen.

Nun wohnt er hier bei uns in Schermbeck… In einer Wohnung am „Alten Friedhof“ zusammen mit drei weiteren Syrern und einem Iraker. Wir sitzen während unseres Gesprächs in einem Raum, der zugleich Wohnzimmer, Küche und auch Schlafzimmer ist.
An der Wand hinter mir stehen zwei Betten. Eines davon ist Ammars Schlafstätte. Das andere gehört dem irakischen Mitbewohner. Zur Ruhe kommen die beiden am Abend erst, wenn keiner aus der fünfköpfigen Wohngemeinschaft mehr Lust hat, Fernsehen zu schauen. Das stelle ich mir auf die Dauer nicht so ganz einfach vor.

Größer Wunsch: ein ganz normaler Alltag
Was er sich im Augenblick besonders wünscht? „To start my life!“ („Mit meinem Leben zu beginnen!“ oder „In mein Leben zu starten“) ist seine Antwort. Und er fügt hinzu, dass er sich nach ganz normaler alltäglicher Routine sehnt: Morgens zu einer festen Zeit aufzustehen, zu frühstücken, zur Arbeit zu gehen, nach Hause zu kommen… ein Leben zu führen, das durch seine täglichen Verpflichtungen und Gewohnheiten seine Struktur hat.
Aber ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, zu warten, zu warten – darauf, dass man ihn anhört, darauf, dass man ihn als Flüchtling anerkennt und das Bleiberecht zuspricht, darauf, dass er Arbeit findet, um schließlich in sein Leben starten zu können.
Wolfgang Bornebusch, Pfarrer i. R.