Tauben verhalfen Aschenputtel

Fantastische Elemente sind typisch für die Märchen. Hexen, Zauberer, Riesen und Zwerge haben eine festen Platz in den Prosatexten, die zumeist von wundersamen Begebenheiten zeugen. Was in einem solch wundersamen Umfeld passiert, kann leicht in den Verdacht geraten, als völlig irreal abgetan zu werden.

Haben Tauben wirklich Aschenputtel helfen können, der bösen Stiefmutter einen Streich zu spielen, indem sie ihr in Windeseile die Linsen aus der Asche heraussuchten? Hat eine weiße Taube dem Dummling in dem Märchen „Die weiße Taube“ wirklich zu einer schönen Prinzessin als Gemahlin verhelfen können? Antworten auf solche Fragen wird die Wissenschaft wohl nicht geben können.

Dass Tauben aber weit mehr sind als die vielfach verunglimpften „Ratten der Lüfte“, darüber sind sich nicht nur die Wissenschaftler längst einig, sondern auch landauf, landab die vielen Liebhaber, die sich mit den Tauben als den „Rennpferden des kleinen Mannes“ umgeben, weil die Tauben über eine nahezu märchenhafte Fähigkeit der Orientierung verfügen. Allein in der „Brieftaubenliebhaber-Reisevereinigung Dorsten + Schermbeck und Umgebung e.V.“ (= RV) beteiligen sich rund 90 Brieftaubenzüchter aus 24 Vereinen alljährlich an den Flügen, die für Jung- und Alttiere separat veranstaltet werden. Die Vorflüge der Alttauben begannen am 5. April an der Einsatzstelle auf dem Festplatz der Altschermbecker Kilianer. Gestern (das ist der Karfreitag) starteten die Brieftauben im 188 Kilometer entfernten Butzbach, um möglichst schnell in den heimischen Schlag zurückzufinden.

Die weiteste Tour steht am 19. Juli an. Dann müssen die Tauben den Weg aus dem 644 Kilometer entfernten österreichischen Wels zurück nach Schermbeck finden. „Kein Problem“, ist Antonius Rittmann überzeugt. Als Vorstandsmitglied der RV ist er selbst aktiver Züchter des Vereins „Luftbote Uefte“ und weiß um den ungeheuer gut ausgeprägten Orientierungssinn der Brieftauben, die bei RV-Flügen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 75 Kilometern pro Stunde unterwegs sind und bei Rückenwind sogar 125 km/h erreichen können. „Des öfteren ist es vorgekommen, dass Tauben auch bei Dunkelheit weitergeflogen sind“, erinnert Antonius Rittmann an Ankünfte von Tauben in der Nacht in ihrem Heimatschlag.

Der Uefter Brieftaubenzüchter Antonius Rittmann gehört zu den etwa 90 Züchtern, die auch in dieser Reisesaison wieder Tauben von Schermbeck aus an Vor- und Preisflügen für Jung- oder/und Alttieren teilnehmen lassen. Am 12. April (Foto) brachte er seine Alttauben zur Einsatzstelle an der Freudenbergstraße, von wo aus sie zum 135 Kilometer entfernten Haiger gebracht wurden. Foto Scheffler
Der Uefter Brieftaubenzüchter Antonius Rittmann gehört zu den etwa 90 Züchtern, die auch in dieser Reisesaison wieder Tauben von Schermbeck aus an Vor- und Preisflügen für Jung- oder/und Alttieren teilnehmen lassen. Am 12. April (Foto) brachte er seine Alttauben zur Einsatzstelle an der Freudenbergstraße, von wo aus sie zum 135 Kilometer entfernten Haiger gebracht wurden. Foto Scheffler

Bei Weitflügen, an denen sich die Schermbecker auf überregionaler Ebene ab und zu beteiligen, müssen die Tauben manchmal über 1000 Kilometer zurücklegen. Das schaffen sie nicht an einem Tag. Nach einer Übernachtung treffen sie dann – je nach Distanz – in den Morgenstunden ein.

Eine exakte Erklärung für die Fähigkeit, den Rückweg vom 1200 Kilometer entfernten Barcelona zu finden, können auch Wissenschaftler den Schermbeckern nicht geben. Einige glauben, dass die Brieftauben den Stand der Sonne oder Sterne sowie das Magnetfeld der Erde als Kompass benutzen. In jüngster Zeit wird die Auffassung vertreten, dass sich in den Schnäbeln der Brieftauben ein Sensor des Magnetsinns in den Nervenzellen befindet. Einige Forscher haben in den letzten Jahren die Vermutung geäußert, dass sich ein magnetischer Sinn im Innenohr der Tiere befindet.

Der fantastische Orientierungssinn hat den Tauben schon seit Jahrtausenden dazu verholfen, Nachrichten und Informationen überbringen zu müssen. Die Ägypter verfügten bereits im Mittelalter über eine regelrechte Brieftaubenpost. Weil Brieftauben auch nicht vor Grenzen zurückschrecken, wurden sie bereits vor der Erfindung des Telegraphen auch häufig für militärische Zwecke eingesetzt. Im Ersten Weltkrieg haben deutsche Soldaten Tauben mit nach Frankreich genommen, um ihren Familien Grüße in die Heimat schicken zu können. Während die Schweizer Armee bereits im Jahre 1917 einen Kurierdienst mit Brieftauben unterhielt, schlug der Versuch vor dem Ersten Weltkrieg fehl, eine Brieftaubenverbindung zwischen Russland und England zu etablieren.

Das Wissen um diese besonderen Fertigkeiten der Tauben lässt ihr im Märchen überliefertes Vermögen, die Linsen für Aschenputtel aus der Asche herauszusuchen, nun in einem ganz anderen Licht erscheinen. H.Scheffler

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Heimatreporter
Unter der Artikel-Kennzeichnung "Heimatreporter" postet der Schermbeck-Dammer Helmut Scheffler seit dem Start dieser Online-Seite im Jahre 2013 Artikel über vergangene und gegenwärtige Entwicklungen der Großgemeinde Schermbeck. Seit 1977 schreibt der inzwischen pensionierte Mathematik- und Erdkundelehrer für Lokalzeitungen. 1990 wurde er freier Mitarbeiter des Lokalfunks "Radio Kreis Wesel", darüber hinaus hat er seit 1976 zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Geschichte Schermbecks in niederrheinischen und westfälischen Schriftenreihen veröffentlicht. 32 Jahre lang war er Redakteur des "Schermbecker Schaufenster". Im Jahre 2007 erhielt er für seine niederrheinischen Forschungen den "Rheinland-Taler" des Landschaftsverbandes Rheinland.